Interview

Gespräch mit Aruna Gnanadason

„Keine sicheren Orte“ – Gespräch mit Aruna Gnanadason, Chennai, Indien, zur Situation von Frauen in Kirche, Gesellschaft und der Corona-Krise

Portrait Aruna Gnanadason

Dr. Aruna Gnanadason arbeitete von 1991 bis 2009 für den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), wo sie das Programm für Frauen in Kirche und Gesellschaft und die Arbeit im Bereich Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung koordinierte. Die promovierte und mehrfach mit Ehrendoktorwürden ausgezeichnete feministische Theologin und Literaturwissenschaftlerin lebt in Chennai, Indien, und unterstützt die ökumenische Bewegung mit Arbeiten zum Beitrag der biblischen Schriften als Alternativen zu Patriarchat, Kastenwesen und globalem Kapitalismus und dessen Folgen für Menschen und Erde.

Aruna, vor kurzem ist Ihr Buch „With Courage and Compassion“* erschienen; darin geht es um den Beitrag von Frauen in Gesellschaft, Kirche und der ökumenischen Bewegung. Was sind die Ergebnisse? Besteht Hoffnung für die Kirche hinsichtlich Geschlechtergerechtigkeit?

„With Courage and Compassion“ feiert das Leben und das, was Frauen in ihrem jeweiligen Kontext angesichts vielfältiger Herausforderungen alles tun und es benennt die Probleme, vor denen sie stehen. Der Fokus liegt dabei auf der ökumenischen Bewegung und auf Initiativen, die durch und mit Frauen im Bereich des ÖRK ausgehen. Dabei werden Meilensteine der ökumenischen Geschichte von Frauen kritisch in den Blick genommen, ebenso wie die Solidarität des ÖRK mit Frauen gewürdigt wird – und dies besonders hinsichtlich der Anerkennung der Arbeit und der Rechte von Frauen und ihres Beitrags in Theologie und Praxis, die ein integraler Bestandteil der ökumenischen Agenda sind. Zur Geschichte der Ökumene gehören viele Zeichen der Hoffnung, aber auch Enttäuschungen für die Frauen.

In der Zeit, in der ich eine leitende Position im ÖRK innehatte, drohten immer wieder auch Spaltungen innerhalb der Frauenbewegung, aufgrund von Ethnizität, Alter und durch unterschiedliche theologische Positionen. Deshalb gehört zu meinen besten Erfahrungen die Partnerschaft mit orthodoxen Christinnen und die Anerkennung ihrer vollen Teilhabe in der ökumenischen Bewegung. Und dass wir Frauen anderer christlicher Traditionen ermutigen konnten, den Beitrag der orthodoxen Frauen als ein Geschenk zum gemeinsamen Gespräch zu verstehen. Ein anderes Thema war die wichtige Arbeit des ÖRK im Bereich Frauen und wirtschaftliche Gerechtigkeit.

„Die Kämpfe von Frauen für Gerechtigkeit und Würde
sind noch längst nicht vorbei“

Aber die beiden wichtigsten Themen des Buches behandeln die Gewalt gegen Frauen und die Frage der Frauenordination. Dies sind bleibende Themen, die dringend angegangen werden müssen, denn sie hindern Frauen nach wie vor daran, sich vollkommen und mit ihrer ganzen Kreativität in der Kirche einzubringen. Und diese Themen führen auch unter Frauen selbst zu Auseinandersetzungen. Ordination ist aber nicht nur das Recht und die Berufung von Frauen, nein, sie bietet auch die Chance zur konstruktiven Kritik am gegenwärtigen kirchlichen Amtsverständnis. Gemeinsam könnten wir zu einer neuen Definition und Rolle von Amt und Ordination heute kommen. Solche Fragen anzugehen, um Erneuerung und Wandel und sogar die Einheit der Kirche herbeizuführen, war immer alles andere als einfach, weil es die kirchliche und geistliche Machtverteilung in unseren Kirchen hinterfragt.

Die Verteidigung von Menschenrechten und besonders der Rechte von Frauen steht schon immer ganz oben auf Ihrer Agenda. Für die weltweite Kirche zu arbeiten heißt, sich gegen Gewalt gegen Frauen stark zu machen, überall. Was erwarten Sie in dieser Hinsicht von Kirchenleitungen, aber ebenso von der Basis heute?

Ich zeige in meinem Buch auf, welche unglaubliche Kraftquelle Frauen sind. Ihre Entschlossenheit und ihre Widerstandskraft sind ihr größter Beitrag zum Leben in Kirche und Gesellschaft. Ihre Rolle in Bewegungen für Gerechtigkeit und Frieden um jeden Preis in allen möglichen Konfliktsituationen macht das deutlich. Ihr kraftvoller und mutiger Beitrag zum Leben der Kirche und in der ökumenischen Bewegung, trotz patriarchaler Strukturen und Hürden, muss bezeugt werden.

Aber es ist auch klar, dass die Kämpfe von Frauen für Gerechtigkeit und Würde noch längst nicht vorbei sind. Unsere Strukturen sind noch immer nicht so, dass sie Räume ermöglichen für die unerzählten Gewaltgeschichten gegenüber Frauen, die ja mit großer Brutalität weitergehen. Immer wieder Frauen haben deutlich gemacht, dass es keine sicheren Orte für sie gibt, auch nicht in der Kirche und ihren Familien.

Ich versuche, die Ursachen der Gewalt aufzuzeigen: die Militarisierung der Welt und die Kultur der Gewalt, die dadurch scheinbar erlaubt ist; soziale Praktiken und Tabus unserer Gesellschaft, die Gewalt legitimieren; wirtschaftliche Ungerechtigkeit und die Feminisierung von Armut, die Frauen verletzlich macht und sie der Gefahr des Missbrauchs aussetzt. Dazu gehören auch religiöse Lehren, einschließlich der christlichen, die die Ungleichbehandlung von Frauen und ihre nur eingeschränkte Teilhabe rechtfertigen.

„Häusliche Gewalt nimmt in der aktuellen Situation zu“

Während Straffreiheit bei Missbrauch von politischer oder militärischer Macht auf Abscheu trifft, gilt dies nicht, wenn Frauen Opfer von Gewalt werden, besonders im häuslichen Bereich. Aber gerade sie werden zur Zielscheibe von „Bestrafung“, wenn sie den Mut haben, Widerstand zu leisten und gegen Machtpositionen angehen.

Ich erinnere mich an manchmal herzzerreißende Erfahrungen bei Solidaritätsbesuchen bei Frauen in Konfliktgebieten, wie das frühere Jugoslawien, Sudan, Sierra Leone, Liberia, Osttimor und Pakistan, um nur einige zu nennen. Dabei wurde zwar die große friedensstiftende Kraft von Frauen in ihrer Arbeit offenbar. Aber wir mussten uns in der ökumenischen Bewegung viel deutlicher mit der Frage auseinandersetzen und zum Thema machen, warum sexuelle Gewalt immer noch aggressiver und schamloser wurde, von einem Konflikt zum nächsten.

Häusliche Gewalt ist ein weltweites Problem. Jetzt, in der Corona-Krise und mit dem Lockdown, zeigt sich, dass noch mehr der Verletzbarsten in einer Falle ohne Zuflucht sitzen. Wie beurteilen Sie die Situation in Indien?

Die Nationale Frauenvereinigung (NCW) hat deutlich auf die täglich ansteigenden Zahlen der Fälle von häuslicher Gewalt hingewiesen; wir haben seit dem 25. März den nationalen Lockdown, der noch bis zum 3. Mai andauern soll. Von den 370 Anzeigen, die uns in den ersten beiden Wochen erreichten, waren 123 mit häuslicher Gewalt verbunden. Aber: das ist nur die Spitze des Eisberges und wir haben nur die Daten von Frauen im städtischen Bereich, die Zugang zu entsprechenden Kommunikationsmitteln haben. Dennoch zeigen diese Angaben, dass häusliche Gewalt in der aktuellen Situation zunimmt und Männer ihre Frustration an den Körpern von Kindern und Frauen auslassen. Nur wenige Frauen beschweren sich in solchem Kontext.

Die Situation armer Frauen ist noch viel schlimmer, aber es gibt noch keine quantitativen Angaben zu häuslicher Gewalt, obwohl auch hier Regierungsvertreter vom Anstieg der Fälle sprechen.

Die Regierung war insgesamt auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch mit dem Lockdown schlecht vorbereitet. Große Bereiche der Arbeiterschaft und insbesondere Tagelöhner blieben einfach ohne jedes Einkommen. In solcher Situation ist es schwer, statistische Angaben zu häuslicher Gewalt zu bekommen. Nachdem jeglicher Transport eingestellt wurde, haben sich in der ersten Woche schätzungsweise 40.000 Wanderarbeiter aus den Städten, wo sie arbeiteten, hunderte von Kilometern zu Fuß auf den Weg in ihre Dörfer gemacht. In einer patriarchalen Gesellschaft wie Indien fällt in einer solchen Situation das Überleben der Familie direkt auf die Schultern der Frauen: Sie müssen sich nun um Essen, um Wasser und um Schutz für ihre Familien kümmern.

„Social distancing“ ist das Gebot der Stunde. Gleichzeitig brauchen wir ein umso größeres Bewusstsein für das Füreinander-dasein. Wie können religiöse Gemeinschaften die gemeinsame Verantwortung in Zeiten der Angst und Not zum Ausdruck bringen?

In Indien ist das Konzept von social distancing – oder besser: physical distancing, also körperlicher Distanz – ein Luxus, der für Millionen von Armen nicht möglich ist! Familien mit fünf bis zehn Mitgliedern (üblicherweise Verwandtschaft) leben in einem oder zwei Zimmern. Wir sehen Bilder von Wanderarbeitern, die sich auf Bahnhöfen dicht an dicht drängen und verzweifelt versuchen, nach Hause zu kommen. Die Regierung und der private Sektor, auch die Kirchen, versuchen ihr Bestes, um Essen und bessere Lebensbedingungen für die Leute insgesamt zu schaffen, aber das Potenzial der Ausbreitung des Virus ist hoch.

„Wir sollten diese Zeit nutzen für eine ehrliche Selbstüberprüfung
der Werte als Christen und als Kirche“

Die Kirchen haben komplett geschlossen, auch in der Karwoche! Für die, die es sich leisten können und Zugang zum Internet haben, gibt es regelmäßig online-Gottesdienste und viele beten in der Familie. Und: es ist Raum für Diskussion um Kirche und kirchliches Leben, um „das Priestertum aller Gläubigen“ entstanden; Kirchenleitende und Theologen bereiten die Diskussion in den sozialen Medien mit vor.

Die diakonische Arbeit der Kirchen ist stärker geworden: z.B. haben 1.000 christliche Krankenhäuser der Regierung angeboten, die Häuser umzurüsten und vollständig für die Behandlung von Corona-Patienten zu nutzen. Viele Privatleute aus verschiedenen Religionen, kümmern sich um Essen für die Armen.

Ich glaube, wir sollten diese Zeit nutzen für eine ehrliche Selbstüberprüfung hinsichtlich der Werte, die wir als Christen und als Kirche insgesamt hochgehalten haben und dabei auch herausfinden, wo wir selbstgefällig geworden sind. Jetzt unser Bestes für unser Land zu geben, fordert unseren christlichen und kirchlichen Lebensstil heraus – und das hat hoffentlich eine nachhaltige Wirkung in Kirchen und Gemeinden.

*Aruna Gnanadason, With Courage and Compassion, Women and the Ecumenical Movement, Fortress Press, Minneapolis, 2020

Fragen und Übersetzung aus dem Englischen: Sabine Dreßler